Der Weg ist immer der­selbe. Von Köpe­nick nach Char­lot­ten­burg und zurück, gut 30 Kilo­meter die ein­fache Strecke; Karsten Heine fährt sie seit bald 20 Jahren, 35 Minuten am Abend, mor­gens kann es schon mal eine Stunde dauern. Man gewöhnt sich dran, an den Stau, die Umlei­tungen, die Bau­stellen. Nur an die neue Fan­kultur will er sich nicht gewöhnen. Ob sie auch am Mitt­woch­abend zur Ein­wei­hung der neuen Alten Förs­terei singen werden: »Nur zur Hertha geh’n wir nicht«? Die Köpe­ni­cker Ver­sion von Frank Zan­ders Hertha-Hymne erfreut sich an der Alten Förs­terei großer Beliebt­heit. »Kann ich nicht ver­stehen«, sagt Heine. Und dass es früher anders war.

Karsten Heine, geboren 1955, ist ein Ber­liner Fuß­ball-Grenz­gänger. Auf­ge­wachsen in Köpe­nick und immer dort geblieben. Den Stürmer Heine nannten sie bei Union »Kuller«, harte Schüsse waren nicht sein Ding. Aber vor­be­reiten, ein­fä­deln konnte er wie nur wenige. Erst als Spieler, später auch als Trainer. Heine war einer der ersten Fuß­ball­lehrer aus dem Osten, der nach der Wende im Westen ankam. Im Sommer 1990, als Hertha BSC und der 1. FC Union noch so was wie eine Freund­schaft pflegen, nicht von oben herab ver­ordnet, son­dern an der Basis gelebt. 

Auf den Tra­versen sangen sie: »Hertha und Union!«

Es gab mal eine Zeit, in der Ost und West ein­ander nicht abschätzig gegen­über­standen oder sich gleich­gültig waren. Als noch Beton und Sta­chel­draht die Stadt teilten, waren Hertha-Fans gern gese­hene Gäste an der Alten Förs­terei. Es hatte etwas Sub­ver­sives, mit einem Hertha-Auf­näher auf der Kutte zu den Spielen vom 1. FC Union zu gehen. Auf den Tra­versen sangen sie: »Hertha und Union!« War natür­lich ver­boten, sagt Karsten Heine, »aber jeder hat’s gehört«. Im Gegenzug reisten die Union-Fans zu Her­thas Spielen in den Ost­block, nach Plowdiw, Prag oder Buda­pest. 

Nie sind sich Fuß­ball-Ost und Fuß­ball-West so nahe gewesen wie zu Zeiten der Tei­lung und kurz nach ihrer Über­win­dung. Zwei Tage nach dem Mau­er­fall spielt Hertha gegen Wat­ten­scheid 09. Tau­sende fahren mit ihren Trabis oder in der hoff­nungslos ver­stopften U‑Bahn nach Char­lot­ten­burg, der S‑Bahnhof Olym­pia­sta­dion ist seit Jahren still­ge­legt. Eine Vier­tel­stunde vor Spiel­be­ginn sind alle 10 000 Frei­karten für DDR-Bürger ver­griffen. Von jetzt an gilt der blaue DDR-Rei­se­pass als Ticket. Auch Unions Trainer Karsten Heine ist mit ein paar Bekannten und Spie­lern dabei. Hertha tut sich schwer, es reicht mit Mühe und Not zu einem 1:1, das die blau-weiß-rote Schick­sals­ge­mein­schaft auf den Rängen wie den Gewinn der Meis­ter­schaft feiert. 

In diesen ersten Tagen nach der Grenz­öff­nung wird die Idee von einem Freund­schafts­spiel der Ber­liner Tra­di­ti­ons­klubs geboren. Das ist so ein­fach nicht. Hertha und Union spielen in den Zweiten Ligen ihrer Ver­bände um den Auf­stieg und ste­cken in Ter­min­zwängen. Ein erstes Mal sehen sich beide Seiten im Osten, Mitte Januar bei einem Tur­nier in der Werner-See­len­binder-Halle an der Lands­berger Allee. Hertha hält sich als Gast vor­nehm zurück, das Publikum feiert Unions Sieg im Finale über den ver­hassten BFC Dynamo. 

Eine Woche später kommt es im Olym­pia­sta­dion zu der vor­weg­ge­nom­menen Wie­der­ver­ei­ni­gung auf Rasen. 50 000 Zuschauer kommen am 27. Januar 1990 zu diesem ersten Spiel zwi­schen Hertha BSC und dem 1. FC Union (der ja erst 1966 gegründet wurde und mit seinem nach Tier­garten emi­grierten Vor­läufer Union Ober­schö­ne­weide nur das Sta­dion an der Alten Förs­terei gemein hat). 

Die Post tritt als offi­zi­eller Sponsor auf und ver­kauft die Ein­tritts­karten für 5 Mark, zu zahlen wahl­weise in Ost- oder West­wäh­rung. Union läuft mit dem Sponsor-Logo eines West-Ber­liner Instal­la­teurs auf. Aber auf dem Wimpel, den Kapitän Olaf Seier beim Ein­laufen in der Hand hält, steht immer noch »KWO« – Kabel­werke Ober­spree, Unions Sponsor zu alten Ost-Zeiten. Das Spiel ist eine hei­tere kör­per­lose Ange­le­gen­heit. Axel Kruse, der sich ein paar Monate zuvor bei einem Aus­flug nach Kopen­hagen aus der DDR abge­setzt hat, bestreitet aus­ge­rechnet gegen einen Verein der immer noch exis­tie­renden DDR sein erstes Spiel für Hertha und schießt auch gleich ein Tor. André Sirocks gleicht aus, kurz vor Schluss gelingt Her­thas Kapitän Dirk Greiser ein Sieg­treffer, der eher stört. »Ver­lierer passten nicht zu diesem Tag«, titelt die (Ost)-»Berliner Zei­tung«. 

Die Distanz wächst

Hertha schafft ein paar Monate später den Auf­stieg in die Bun­des­liga, Union ver­liert in der DDR-Liga den Anschluss. Im April wird Trainer Heine ent­lassen. Jetzt bewähren sich die Kon­takte zu Her­thas Trainer Werner Fuchs. Am 1. Juli fängt Heine als Trainer der Hertha-Ama­teure an. Es beginnen die täg­li­chen Fahrten von Köpe­nick nach Char­lot­ten­burg, und schon bald merkt er, wie die gefühlte Distanz zwi­schen alter und neuer Heimat immer weiter wächst. 

Zum Rück­spiel am 12. August 1990 kommen nur noch knapp 4000 Zuschauer in die Alte Förs­terei. Hertha und Union ver­lieren sich aus den Augen, werden sich egal, ent­wi­ckeln Abnei­gungen. Im Olym­pia­sta­dion brüllen sie statt »Eisern!-« »Scheiß!«-Union, in Köpe­nick dichten sie Zan­ders Hymne um. »Ich weiß bis heute nicht, warum es so gekommen ist, und es hat mir auf diese Frage auch noch nie­mand eine gute Ant­wort gegeben«, sagt Karsten Heine. »Viel­leicht liegt es an einer neuen Fan-Gene­ra­tion, die die alten Zeiten nicht mehr erlebt hat.« Viel­leicht auch daran, dass Hertha und Union sport­lich zuletzt so viel trennte wie Char­lot­ten­burg und Köpe­nick auf dem Stadt­plan. 

Karsten Heine hat es im Westen bis zum Chef­trainer gebracht, 1997 ist er zu Union zurück­ge­kehrt, er hat sich als Scout bei einem Spie­ler­be­rater ver­dingt und arbeitet seit fünf Jahren wieder bei Hertha, der­zeit als Trainer der zweiten Mann­schaft. »Am Mitt­woch ist Lak­tat­test«, sagt Heine, nach­mit­tags um vier noch mal Trai­ning, und dann nichts wie ins Auto, denn abends will er Fuß­ball gucken. »Hertha gegen Union – ach nee, Union gegen Hertha«, Köpe­nick hat Heim­recht.

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